Paul und seine Welt
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Folge 6
Venedig
Es geschah während der Hochzeitsreise in einer Seitenstraße vom Markusplatz. Vater versuchte gerade, eines seiner berühmten Taubenfotos aufzunehmen, als Mutter zwei ältere Frauen entdeckte, die sich auf einer Bank vor ihrem Haus lebhaft unterhielten. Sie falteten dabei nach einem bestimmten Prinzip eine Plastiktüte nach der anderen zusammen. Es entstanden dabei winzige Rechtecke, kaum größer als eine Streichholzschachtel.
Vater war mit den Tauben noch eine Weile beschäftigt. Licht und Schatten spielten bei seinen Fotografien schon immer eine zentrale Rolle. Die Tauben aber jagten jedem von den Touristen hingeworfenen Brotkrümel hinterher und ignorierten seine Anweisungen. Mutter setzte sich also zu den beiden Frauen und ließ sich die Technik erklären.
Seit dieser Zeit befanden sich immer einige hundert dieser gefalteten Tüten in unserem Küchenschrank.
*
Was sie denn mit dieser Sammlung überhaupt wolle, wurde Mutter eines Tages von Boris’ Mutter gefragt, als Boris und sie uns besuchten.
„Ei, sammeln“, sagte meine Mutter. Sie ahmte den Dialekt von Boris‘ Mutter nach, worüber Boris und ich heimlich lachten.
Ei, sie würde ja Eierbecher sammeln, sagte Boris’ Mutter. Das sei ja auch viel sinnvoller. Eierbecher hätten einen praktischen Nutzen, sagte Boris’ Mutter, aber gefaltete Plastiktüten? Und dann auch noch so viele? Ein Stoffbeutel tue es doch auch!
Wie viele Eierbecher sie denn schon gesammelt habe, fragte Mutter.
„Ei, zweihundert“, antwortete Boris’ Mutter und zuckte die Schultern.
Wer denn die Eierbecher benutzen würde, fragte meine Mutter. Ob sie denn schon einmal 200 Eier auf einmal gekocht habe, fragte meine Mutter. Kenne sie denn überhaupt so viele Leute, fragte meine Mutter.
Von da an kam Boris allein und Mutter faltete weiterhin jede Plastiktüte, die ihr in die Hände kam…
***
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Folge 1: Verantwortungsbewusstsein