Paul und seine Welt
Folge 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 7 / 8 / 9 / 10 / 11 / 12
Folge 12
Adams Apfel
Man hatte mich gewarnt. Meine Großmutter hatte mir nämlich schon früh vom Stimmbruch meines Vaters erzählt.
„Ich dachte, da würde jemand sein Auto starten. Uiuiuiuiui!“
Interessant, hatte ich damals gedacht, aber so wie sie danach gelacht hatte, war ich doch unsicher geworden.
*
Letzte Woche war es dann Frau Boss gewesen, die uns im Biologieunterricht genaueres mitgeteilt hatte. Mädchen wären früher dran, hatte sie gesagt, denn Jungen würden ihn erst im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren bekommen.
Und das, so hatte sie mit einem seltsamen Unterton in der Stimme ergänzt, wäre erst der Anfang – Schamhaare, Barthaare, Achselhöhlenhaare, Pickel und Schweiß, der mindestens nach Erbsensuppe riechen würde. All das sollte folgen.
„Die Pubertät: Das ist euer Weg in die Welt der Erwachsenen. Er ist voller Hindernisse, aber es gibt kein Zurück.“ Ab dem Moment hatte ich ihr nicht mehr zugehört.
*
Ich beschloss, die Pubertät möglichst schnell hinter mich zu bringen. Wenn es sowieso kein Zurück mehr gab, wozu dann noch warten? Das wäre doch das Beste: Eine Stunde Stimmbruch haben und danach wäre alles wieder gut. Und Bruder Kolja war der erste, mit dem ich darüber sprach. Er riet mir, Öl zu trinken, wenn es so weit wäre.
„ich habe damals einen halben liter rapsöl getrunken – es hat überhaupt nichts genutzt! – aber vor ein paar jahren hat mir der guru meiner damaligen freundin – wie hieß die noch mal? – egal, jedenfalls hat er mir ein fläschchen jasminöl gegeben und es in einer fremden sprache besprochen, klang echt beeindruckend und das soll gegen vieles helfen: falten, haarausfall, impotenz…“
„Und Stimmbruch?“, unterbrach ich ihn.
„natürlich auch bei stimmbruch, paul, ist doch besprochen, ich habe das fläschchen noch, also falls du willst…“
Seitdem Bruder Kolja beim Sozialistischen Studentenbund gewesen war, sprach er nur noch in kleingeschriebenen Buchstaben, damit kein Wort wichtiger wäre als ein anderes. Einen Punkt, so hatte Mutter mir einmal erzählt, hat er sowieso noch nie gemacht. Bruder Kolja sei ein lebendes Komma, hatte sie gesagt, „der Übergang von einer Tat zu nächsten, ohne Wenn und Aber“. Aber trotzdem: Ich wollte das Fläschchen nicht. Das Öl war bestimmt schon ranzig.
*
Der nächste Tipp kam von meinem Vater, als wir mit Doktor Wolff in der Pizzeria Da Pino saßen: „Halt einfach dein Maul.“
Und wenn ich allein sei, dann sollte ich babbeln wie nur was. „Dann gewöhnen sich die Stimmbänder dran.“
„Mutazione vocale heißt das bei uns“, sagte Herr Da Pino, der Pizzabäcker. „Ist schlimm!“
Dann verwuschelte er mein Haar. Was blieb mir da anderes übrig, als laut zu seufzen? „Warum muss man überhaupt bei so etwas mitmachen!“
„Schau hier“, sagte Doktor Wolff, zwinkerte meinem Vater verschwörerisch zu und zeigte auf den herausragenden Kehlkopf unter seinem Bart.
„Der Adamsapfel. Wenn der wächst, dann wird deine Stimme tiefer – manchmal eine ganze Oktave. Aber wenn dir vorher jemand an die Eier fasst…“ – Doktor Wolff war, was das Medizinische betraf, ab dem zweiten Glas Rotwein meistens sehr direkt – „…und dir davon eins abreißt, dann kann er nicht mehr wachsen, der Kehlkopf, warum auch immer. Und dann bekommst du auch keinen Stimmbruch. Dann kannst du für immer im Knabenchor singen.“
„Haha“, machte ich. Ich glaubte ihm kein Wort.
„Si si, das ist wahr, mein Junge“, sagte Herr Da Pino, „bei uns in Italien gab es früher ganz wunderbare Opernsänger mit einer hohen Stimme. Farinelli zum Beispiel, der wurde vor über zweihundert Jahren in Napoli ausgebildet. Er muss eine besonders schöne Stimme gehabt haben, nachdem man ihn kastriert hat.“
Gebannt hörten wir ihm zu. Auch der Pizzabäcker hatte eine schöne Stimme, aber die war eher kratzig. Als wäre zuviel Zigarettenrauch an seinem Adamsapfel vorbeigezogen.
„Sogar die spanische Königin hat Farinelli für mehrere Jahre engagiert, um König Felipe von seiner Schwermut zu heilen. Nacht für Nacht hat Farinelli ihm immer die gleichen sechs Lieder vorgesungen. Aber ob es geholfen hat?“ Herr Da Pino zuckte mit den Schultern.
„Schwermut“, brummte Vater, „wenn ich das hätte hören müssen, hätte ich mich schon nach einer Woche umgebracht.“
*
In einer Schulpause erzählte ich das alles Boris und Ivo.
„Du musst es aber auch immer ganz genau wissen, was?“, sagte Boris, aber das war trotzdem nett gemeint. Ivo hingegen zuckte nur mit den Schultern und starrte betrübt auf den Boden. Seltsam.
„Und dann habe ich mit Rotraud über den Adamsapfel gesprochen, ihr wisst schon, die Freundin meiner Mutter.“
„Die Feministin?“
Ich nickte. „Sie sagte, das wäre mal wieder so ein Wort, das von den Männern aus reiner Frauenfeindlichkeit erfunden wurde.“
Ivo schwieg. Aber Boris dachte nach.
„Das verstehe ich nicht. Was soll denn der Adamsapfel mit Frauenfeindlichkeit zu tun haben?“
„Ganz einfach, weil doch Adam wegen Eva den Apfel vom Baum der Sünde gegessen hat. Und der ist ihm im Hals stecken geblieben und fast wäre er daran erstickt. Das müsst ihr doch wissen? Ihr geht doch in Reli und nicht ich.“
„Ach, ich will gar nicht erwachsen werden“, seufzte Boris, „wozu soll das alles gut sein?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Es gibt kein Zurück.“
Ivo schwieg.
Und weil Boris mein bester Freund war und Ivo gleich danach kam, erzählte ich ihnen dann auch gleich noch von meiner größten Sorge. Das mit der Kastration.
„So wie ich den Doktor Wolff verstanden habe, scheint das ganz einfach zu sein. Normalerweise macht man das vor dem Stimmbruch, hinterher ist es ja nicht mehr notwendig. Aber…“
Ich wusste, Boris mochte solche Pausen nicht, aber die hinter dem „aber“ war wichtig.
„…aber was, wenn mich jemand kastriert, wenn ich mitten im Stimmbruch bin? Hört man sich dann den Rest seines Lebens wie der Anlasser eines Autos an?“
„Paul, das ist kompletter Unsinn!“
Ich schüttelte wieder den Kopf. „Man muss im Leben auf alles vorbereitet sein. Und deswegen mache ich genau das, was mein Vater gesagt hat: Mein Maul halten! Und weil ich ja nicht weiß, wann das mit dem Stimmbruch anfängt, werde ich gleich ab morgen kein Wort mehr sagen!“
„Du bist zwölf…“
„Fast dreizehn, Boris!“
„Ok, aber was, wenn der Stimmbruch erst kommt, wenn du fünfzehn oder sechzehn bist? Willst du drei Jahre schweigen?“
„Ja.“ Das sagte ich mit großer Überzeugung. Aber Boris lächelte nur.
„Und wie willst du dann merken, dass er da ist?“
Mein Freund Boris ist ziemlich klug, sogar klüger als ich. Aber das würde ich ihm nie sagen. So was macht man nicht unter Freunden. Da bringt man den anderen nur in Verlegenheit.
„Außerdem reicht mir ein Freund, der nicht mehr spricht“, flüsterte Boris und zeigte auf Ivo. Da musste ich ihm Recht geben, Ivo war nicht nur heute, sondern schon seit einigen Tagen einsilbig. Er sagte kaum ein Wort.
„Er wird doch nicht auch…“, fing ich an, brach aber ab. Vielleicht gab es ja außer dem Stimmbruch noch andere Gründe, warum man nicht mehr sprechen wollte…
*
Wie sollte ich also merken, dass der Stimmbruch da ist? Ich entschied einfach, es für sehr wahrscheinlich zu halten, dass man so einen Stimmbruch nur in der Nacht bekommt. Tagsüber ist der Körper ja mit so vielen anderen Dingen beschäftigt. Wie soll da ein Adamsapfel richtig wachsen können?
Also musste ich nur dafür sorgen, dass ich jeden Morgen erst einmal ganz für mich allein ausprobiere, ob er da wäre oder nicht. Tagsüber könnte ich dann so viel reden, wie ich wollte.
Deswegen schloss ich mich gleich am nächsten Morgen im Badezimmer ein und stellte mich vor den Spiegel. Ich befühlte meinen Hals, tastete nach dem Adamsapfel. Wenn das mit dem Baum der Sünde stimmen sollte, könnte eigentlich noch keiner da sein. Aber fühlte ich nicht trotzdem etwas? Da war doch so ein neuer Gnubbel…
„BDNL?“ („Brauchst du noch lange?“) Meine Schwester stand im Flur und rüttelte an der Tür.
‚Gleich‘, wollte ich schon rufen, aber ich hielt mir rechtzeitig den Mund zu. Sie konnte mich da draußen im Flur hören und ich hatte heute Morgen ja noch kein Wort gesprochen.
„PMDTA!“ („Paul, mach‘ die Tür auf!“)
Was sollte ich tun? Ich klopfte an die Tür, um zu zeigen, dass hier drin alles in Ordnung sei.
„Was ist denn los, Paul? Kannst du nicht reden? Bist du verletzt?“
Sie verzichtete – kein gutes Zeichen! – auf ihre Abkürzungen und klopfte ebenfalls an die Tür. Ich klopfte noch mal zurück.
„Was macht ihr denn schon wieder für einen Krach?“ Vater stand nun auch vor dem Badezimmer. Meine Schwester klärte ihn auf. „Paul, hier spricht dein Vater! Jetzt mach‘ die Tür auf!“
„Was ist mit Paul?“, hörte ich Mutter fragen, „bist du da drin? Paul?“
Ich konnte meinen Namen schon nicht mehr hören! Vielleicht war es richtig, dass sie sich hin und wieder Sorgen um mich machten, aber das war definitiv der falsche Moment. Ich war am Rande der Verzweiflung … und wusste noch immer nicht, ob ich ihn schon hatte, den Stimmbruch.
„Geht weg“, flüsterte ich.
*
„Und dann hat mein Vater die Tür aufgebrochen. Und er hat mich so lange geschüttelt, bis ich ‚jetzt hör schon auf‘ gerufen habe, ohne irgendein Anzeichen vom Stimmbruch.“
„Wow“, sagte Boris, „das hat bestimmt Ärger gegeben.“
Wir saßen beide auf der Schulhofmauer. Ivo lief vor uns auf und ab.
„Ach was, nur meine Schwester war sauer.“
Sie hatte mehrmals „IMAK“ („Ich muss aufs Klo!“) gerufen, während mein Vater auf dem Klodeckel gesessen und sich über meine Sorgen totgelacht hatte. Er war nicht so gut darin, die Abkürzungen meiner Schwester zu übersetzen.
„Aber dann hat mein Vater etwas sehr Interessantes gesagt. Dass es nämlich so ähnlich sei wie bei meinem Opa. Man will es endlich hinter sich haben‘…“
„Und? Jetzt mach‘s doch nicht so spannend. Was soll das heißen?“
Boris schubste mich von der Mauer. Ich machte mir einen Spaß daraus und lief Ivo nach, hin und her, auf und ab, was ging es mir gut! Kein Stimmbruch! Dann blieb ich stehen und wurde ernst.
„Wisst ihr, als meine Oma gestorben ist, da hat das meinen Opa ganz schön mitgenommen. Er wollte nicht ohne sie sein. Und deswegen hat er immer diesen einen Satz wiederholt, der dann schließlich auch in Erfüllung gegangen ist. ‚Der Tod ist leichter zu ertragen als das Warten.‘ Unglaublich, oder? Aber es stimmt, man will es endlich hinter sich haben. Und ich habe ja Glück. An so einem Stimmbruch werde ich schon nicht sterben.“
„Mann!“, rief Ivo und schubste mich. „Du bist so ein Arschloch, weißt du das?“
*
Boris und ich schauten Ivo hinterher, als er weglief. Wir folgten ihm. Jetzt musste er einfach erzählen, was mit ihm los war. Wir fanden ihn bei der Tischtennisplatte. Er hatte seinen Kopf auf die Betonplatte gelegt und schluchzte.
„Mein Vater hat Krebs“, sagte er schließlich, „und wir wissen nicht, ob es gut ausgeht. Dieses blöde Warten!“
‚Au Backe‘, dachte ich, als mir der Spruch meines Opas einfiel. Ivo sah es mir an.
„Ja, genau. Es ist wie immer: Du denkst nur an dich.“
Ein paar Mädchen aus unserer Klasse kamen vorbei. Sie lachten.
„Schaut euch die an“, sagte die Verena, „Jungs, die weinen. Wie süüüß!“
Sie kicherten, wie nur Mädchen kichern können. Auch Chiara war dabei. Sie kicherte aber nicht. Sie lächelte nur. Ich lächelte zurück.
‚Ivo, wenn ich das gewusst hätte‘, wollte ich sagen, aber ich hatte auf einmal so einen komischen Kloß im Hals. Und es roch nach Erbsensuppe…
„Ach Ivo.“ Boris nahm unseren Freund in den Arm. „Paul hat doch keine Schuld, dass es deinen Vater schlecht geht. Warum hast du es uns denn nicht schon früher erzählt?“
Ivo machte sich los. Während ich meinen Hals befühlte, kletterte er auf die Tischtennisplatte. „Wisst ihr, wie schwer das ist? Als würde man am Rand von etwas stehen und man weiß nicht, was dahinter ist. Wie es weitergeht! Aber das ist Schlimmste ist: Man selbst kann gar nicht entscheiden, ob und wann es weitergeht, man weiß nur, dass es irgendwann passieren wird.“
Er hatte ja so Recht. Was sollte ich da noch sagen? Ivos Vater, ich mochte ihn sehr.
„Aber wir sind deine besten Freunde, Ivo. Wir helfen dir. Paul, sag‘ doch auch mal was.“
Ich machte den Mund auf, aber es wollte nichts raus.
„Paul?“
Ich räusperte mich. Es klang irgendwie komisch. Ich hustete.
„Pau-ul?“
„Uiuiuiuiui“, kam es aus meinem Mund. Wie ein Anlasser...
***
Mehr von Paul und seiner Familie, von Arno Schmidt, dem Tod von Frau Schellack und warum Deutschland 1974 Weltmeister wurde, erfahren Sie in „Flokati oder mein Sommer mit Schmidt“, eine Geschichte über Leben und Tod, Liebe und Freundschaften in einem unvergesslichen Sommer, zu bestellen in Ihrer Buchhandlung, beim Ullstein Verlag oder unter www.buchhandel.de.
Abonnieren können Sie die Geschichten von "Paul und seine Welt"
mit einer Email an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Folge 1: Verantwortungsbewusstsein